Hallo,
die Vereinigung der europäischen Nuklearmediziner European Association of Nuclear Medicine (EANM) lehnt die interdisziplinäre Leitlinie der American Thyroid Association (ATA) zum differenzierten Schilddrüsenkrebs ab ( ATA-Leitlinie 2015), obgleich sie in dieser neue Leitlinie einen Fortschritt gegenüber allen früheren Leitlinien – auch der der EANM – sehen.
Die Kritik lässt sich nach Ansicht der Autoren des Artikels in zwei Kategorien unterteilen:
Die Ablehnung wird u. a. mit folgenden Punkten an folgenden Empfehlungen (=Recommendation =R) begründet:
In der ATA-Leitlinie wird hier zum einen nur bei erniedrigtem TSH-Wert eine Szintigraphie gefordert.
Kritisiert wird von der EANM, dass für die Bevorzugung einer I-123-Szinitgraphie vor einer Technetium-Szintigraphie keinerlei Belege angeführt werden.
EANM hält es jedoch zudem für sinnvoll/notwendig, dass in Ländern mit einem Jodmangel, eine (Technetium)-Szintigramm gemacht wird, auch wenn der TSH-Wert innerhalb des Referenzbereichs liegt, weil dadurch kalte Knoten nicht gänzlich ausgeschlossen werden könne.
Bedauert wird zu dem, dass die ATA keine Ausführungen zur Tc-99m-MIBI-Szintigraphie (= Szintigrafie mit Tc-99m-Sestamibi) mache zur Abklärung von unklaren Befunden in der Feinnadelpunktion [siehe Bethesda Category / Kategorie].
Die EANM kritisiert die Empfehlung R35B
RECOMMENDATION 35
(…)
( For patients with thyroid cancer >1 cm and <4 cm without extrathyroidal extension, and without clinical evidence of any lymph node metastases (cN0), the initial surgical procedure can be either a bilateral procedure (near-total or total thyroidectomy) or a unilateral procedure (lobectomy). Thyroid lobectomy alone may be sufficient initial treatment for low-risk papillary and follicular carcinomas; however, the treatment team may choose total thyroidectomy to enable 131I therapy or to enhance follow-up based upon disease features[Hervorhebungen Harald] and/or patient preferences.
(Strong Recommendation, Moderate-quality evidence)deutsch [Übersetzung Harald]:
EMPFEHLUNG 35(…)
( Für Patienten mit einem Schilddrüsenkrebstumor [Harald: durch eine Feinnadelpunktion festgestellt] von >1 cm und <4 cm, ohne Ausbreitung außerhalb der Schilddrüse und ohne klinische Anzeichen von Lymphknotenmetastasen (cN0), kann die erste Operation sowohl eine beidseitige Operation (beinahe totale oder totale Schilddrüsenoperation) oder eine einseitige Schilddrüsenoperation (Lobektomie) sein. Die Lobektomie allein kann eine ausreichende Behandlung sein für Patienten mit niedrigem Risiko eines papillären und follikulären Schilddrüsenkarzinoms; jedoch, die Behandler mögen eine totale Schilddrüsenoperation wählen, um eine RIT durchzuführen, basierend auf bestimmten Krankheitsmerkmalen und/oder Patientenwunsch.
(Starke Empfehlung, die Studienlage ist von mittlerer Qualität)
(…)RECOMMENDATION 51
(A) RAI remnant ablation is not routinely recommended after thyroidectomy for ATA low-risk DTC patients. Consideration of specific features of the individual patient
that could modulate recurrence risk, disease follow-up implications, and patient preferences are relevant to RAI decision-making.
(Weak recommendation, Low-quality evidence))deutsch [Übersetzung Harald]:
EMPFEHLUNG 51(A) Eine ablative RIT wird nicht routinemäßig empfohlen für ATA-low-risk Patienten des differenzierten Schildrüsenkrebs nach einer totalen Schilddrüsenentfernung.
In Erwägung von spezifischen Besonderheiten des individuellen Patienten, welche das Rezidivrisiko verändern können, Konsequenzen in der Nachsorge und Wünsche des Patienten sind von Bedeutung für die Entscheidungsfindung für oder gegen eine RIT.
(Schwache Empfehlung, geringe Studienqualität)
Die EANM-Autoren kritisieren diese obige angeführte Empfehlung R35B sowie die Empfehlung R51A ausführlich, weil mit dieser Empfehlung eine Vielzahl von papillären Schilddrüsenkarzinomen – entgegen der früheren Leitlinie, in der lediglich bei papilläre Mikrokarzinome (<1cm) - eine RIT nun nicht mehr routinemäßig empfohlen werde, obgleich es auch Studien gibt, die einen Nutzen der RIT aufzeigen:
Unstrittig auch bei der EANM dürfte sein, dass das minimal-invasive follikuläre Schilddrüsenkarzinom (<4 cm) [hier gibt es allerdings unterschiedliche Definitionen der ATA und deutschen chirurgischen Leitlinie] sowie der nicht-invasive follikuläre Tumor (Neoplasie) mit papillär-ähnlichen Kernmerkmalen (NIFTP; früher: ) keine RIT mehr empfohlen wird.
Den EANM-Autoren dürfte es vor allem um die klassische Variante des papillären Schilddrüsenkarzinoms ohne klinische Anzeichen von Lymphknotenmetastasen gehen, denen in der Routine nach ATA nun keine RIT empfohlen wird. Die EANM verweist dabei auf Studien, die nicht so differenziert die Risikogruppen wie die ATA 2015 betrachten.
(Risikogruppen und Risikoeinschätzung beim differenzierten Schilddrüsenkrebs in der American Thyroid Association (ATA) -Leitlinie 2015)
Alle Studien, auf die Verwiesen wird – sowohl der EANM als auch der ATA – , sind retrospektive Auswertung von Registern, und haben eine geringe Evidenz/Studienqualität.
Die EANM vertritt jedoch den Standpunkt, dass man nicht ohne schwerwiegenden Grund ein gut-etabliertes und erfolgreiches Therapie-Verfahren für diese Patienten, die kein papilläres Mikrokarzinom haben, aufgeben solle, solange nicht bessere Daten aus guten Studien vorliegen.
ATA-Autoren wie z.B. Prof. Schlumberger erwidern diese EANM-Kritik mit dem Hinweis, dass der Nutzen der Radioiodtherapie bei low-risk Patienten nur durch prospektiv-randomisierte Studien nachgewiesen werden könne, wie sie nun in Frankreich und Großbritannien durchgeführt werden [Diskussion auf dem ETA-Kongress in Kopenhagen 2016]:
Solange es jedoch keine besseren Studien gäbe, müsse man diese Unsicherheit der Datenlage über den Nutzen der RIT bei diesen Patienten, dementsprechend auch mit den Patienten kommunizieren.
Kommentar Harald: Ich persönlich tendiere hier eher zur ATA-Position. Vor allem muss man die Risiken der Therapien in ihrer Gesamtheit betrachten (Risiken der totalen Schilddrüsenoperation, welche Voraussetzung für die RIT ist, Probleme der Schilddrüsenhormonsubstitution), nur so kann der Arzt mit dem Patienten gemeinsam das für und wider abwiegen.
Damit es jedoch hier wirklich zu einer gemeinsame Risikoabwägung kommen kann, muss bereits bei der Diagnostik mehr geschehen wie es derzeit passiert (wo z.b. nur bei einer Minderheit der Patienten eine Feinnadelpunktion gemacht wird), und es braucht vor allem Zeit und mehrere Gespräche vor einer Operation.
Auch braucht es sowohl bei Ärzten als auch bei Patienten ein besseres Verständnis der Risiken.
Literatur Tipp:
Gerd Gigerenzer: Risiko: Wie man die richtigen Entscheidungen trifft (C. Bertelsmann Verlag 2013) amazon
Gerd Gigerenzer und J. A, Muir Gray (Hrsg.): Bessere Ärzte, bessere Patienten, bessere Medizin. Aufbruch in ein transparentes Gesundheitswesen: Mit einem Vorwort von Günther Jonitz (2013) amazon
Die EANM kritisiert, dass bei der Frage, ob eine RIT indiziert ist, nicht berücksichtigt wird, dass wenn eine totale Schilddrüsenentfernung durch einen erfahrenen Schilddrüsenchirurgen in einem Zentrum durchgeführt wird, welches viele Schilddrüsenoperation macht, diese Operation einer vollständigen Entfernung der Schilddrüse gleichkommt wie einer Ablation durch die RIT. (siehe nächster Punkt)
Die EANM-Autoren kritisieren, dass die ATA keine Empfehlung zum postoperativen Tg-Wert für die Entscheidungsfindung, ob eine RIT indiziert ist oder nicht, gäbe.
In Kapitel [B33] werden ausführlich die Empfehlungen R50 (A-C) begründet. Die Empfehlung, dass man den postoperativen Tg für die Indikation RIT hinzuziehen soll (am niedrigsten 3-4 Wochen nach der OP), ist gar eine starke Empfehlung der ATA. Lediglich zum Grenzwert (Cutoff), ab welchem postoperativen Tg-Wert eine RIT indiziert ist, macht sie keine Aussage, weil hier nach ATA es keine guten Daten gäbe.
Die EANM kritisiert, dass die ATA bei ihrer Wortwahl zu rhTSH eher Zurückhaltung nahelegt und zu wenig die Vorteile sowie Gleichwertigkeit von rhTSH darstellt.
Kritisiert werden hier die Empfehlungen R54A und R54B
Abschließend betonen die EANM-Autoren, dass sie hre Unterstützung bei der Überarbeitung der nächsten Leitlinie anbieten, um die Evidenz von nuklearmedizinischen Verfahren besser einordnen zu können.
Ein solche Leitlinie würde dann auch die EANM unterstützen.
Viele Grüße
Harald
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