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Kontroversen und Konsensus über den Einsatz der RIT – Martinique Principles (Tuttle 2019)

Kontroversen und Konsensus über den Einsatz der RIT – Martinique Principles (Tuttle 2019)

| Beitrags-ID: 259497

Kontroversen und Konsensus über den Einsatz der Radioiodtherapie

Martinique Principles für die Forschung und die Leitlinien

[Dieser Beitrag erschien auch in kürzer und in etwas anderer Form in unserem www.sd-krebs.de – OFFLINE, Nr. 22, Juli 2019]

Update 22.6.2022:

Im Jahr 2015/2016 veröffentlichte die amerikanische Fachgesellschaft von Schilddrüsenärzt*innen, American Thyroid Association (ATA), eine überarbeitete Leitlinie für die Therapie des differenzierten Schilddrüsenkarzinoms (papillär, follikulär, Hürthle Cell, …). Diese Leitlinie sieht vor, dass bei vielen Schilddrüsenkrebspatient*innen mit einem geringen Risiko für ein Rezidiv (low-risk), die chirurgische Teil- bzw. die totale Entfernung der Schilddrüse, eine ausreichende Therapie sein kann. Die Vereinigung der europäischen Nuklearmediziner*innen, European Association of Nuclear Medicine (EANM), lehnte auf Grund dieser Empfehlungen die formale Unterstützung der amerikanischen Leitlinie ab, da sie die Frage nach dem Nutzen der Radioiodtherapie (RIT) auch bei low-risk Patient*innen für wissenschaftlich offen hält (siehe Thema: EANM kritisiert ATA-Leitlinie 2015 zum dif. SD-Krebs ).

Für den Nutzen der RIT bei low-risk Patient*innen gibt es keine guten Studien mit hoher Evidenz, weil sich die Krankheitsverläufe beim Schilddrüsenkarzinom über große Zeiträume – mehr als 10 Jahre – erstrecken. Überlebensraten von 90 % und mehr, 10 Jahre nach Diagnose, geben jedoch ein unvollständiges Bild darüber, wie die Lebensqualität im Falle eines Rezidivs und wie hoch das wirkliche Risiko ist, an diesem Krebs zu sterben. Erst dieses Frühjahr mussten wir so um ein sehr junges, engagiertes Mitglied unseres Vereines, Michaela78, trauern: 11 Jahre nach der Diagnose und 8 Jahre, nachdem sich das Rezidiv mit einem Anstieg des Thyreoglobulin-Wertes bemerkbar machte.

Ein weiteres Problem in der Abwägung von Nutzen und Risiken durch die RIT besteht darin, dass es mit der RIT eine zielgerichtete Therapie gibt, deren Nebenwirkungen im Vergleich zu anderen Krebstherapien weniger ausgeprägt sind – zumindest, wenn die RIT mit rhTSH durchgeführt wird und nicht durch Weglassen der Schilddrüsenhormone. Das radioaktive Iod wird vor allem durch gesunde Schilddrüsen- und bösartige Schilddrüsenkrebszellen aufgenommen. Allerdings kann es z. B. auch zu einer Verstopfung und Entzündung der Speicheldrüsen durch das radioaktive Iod kommen. Verminderter Speichelfluss und Veränderungen der Speichelzusammensetzung verursachen so eine Mundtrockenheit (Xerostomie), die Geschmacksverlust, Schluckbeschwerden und/oder Zahnbeschwerden zur Folge haben kann. Das Risiko für das Auftreten von Karies ist in Folge ebenfalls erhöht. An Langzeitnebenwirkungen der RIT wird ein gering erhöhtes Risiko für einen Zweitkrebs (Forums-Gruppe) vermutet. Diese Daten über die Langzeitfolgen der RIT als auch über den Nutzen der RIT basieren jedoch alle auf Auswertungen von Daten in Krebsregistern. Bei dieser Auswertung von Daten im Nachhinein (= .retrospektiv), die zu einem früheren Zeitpunkt erhoben wurden, werden jedoch eine Vielzahl von Faktoren, die für oder gegen eine Therapie-Entscheidung – hier RIT – sprachen, nicht berücksichtigt. Um solche Fehler von retrospektiven Studien zu vermeiden, werden in der evidenzbasierten Medizin Studien gefordert, in denen zu Beginn der Studie (=prospektiv) die Patient*innen per Zufall (=randomisiert) einer Therapie zugeordnet werden oder nicht, und wenn möglich auch so, dass weder Patient*innen noch behandelnde Ärzt*innen wissen, wer welche Therapie bekommen hat (doppel-verblindet).

Wenn die Studienlage wie bei der RIT nicht sehr gut ist, dann bietet dies Spielraum für Empfehlungen, die auf Vermutungen, sogenannten „Expertenmeinungen“ und unterschiedlichen Interpretationen der Daten basieren. Entsprechend kontrovers und zum Teil recht „hitzig“ wurden die unterschiedlichen Einschätzungen zum Nutzen der RIT unter den Expert*innen diskutiert.

Die Meinungsverschiedenheiten brachten Dr. Ciprian Draganescu und seinen Kollegen Dr. Patrick Bourget, vom Universitätskrankenhaus Martinique, auf die Idee, zu einer Diskussionsveranstaltung mit Fachärzt*innen und anderen Wissenschaftler*innen einzuladen, „um auszuloten“, ob sich ein Konsens erzielen lässt. Diese Initiative führte schließlich zu einem ‚Gipfeltreffen‘, das vom 13. bis 14. Januar 2018 stattfand. Das Universitätskrankenhaus Martinique stellte seine Einrichtungen für das Treffen zur Verfügung. Andere Mittel kamen von den beteiligten medizinischen Gesellschaften. Es gab keine Unterstützung durch die Industrie.

Auf diesem Treffen nahmen neben Vertreter*innen, der beiden bereits oben angeführten medizinischen Fachgesellschaften, auch Vertreter*innen der medizinischen Fachgesellschaft von europäischen Schilddrüsenärzt-*innen der European Thyroid Association (ETA) sowie der Vereinigung der amerikanischen Nuklearmediziner-*innen Society of Nuclear Medicine and Molecular Imaging (SNMMI) teil.

Auf diesem Treffen einigte man sich auf 9 Prinzipien, wie man das Wissen zum Nutzen und potentiellen Schaden der RIT z.B. mittels interdisziplinärer Studien vertiefen kann und was hierbei zu beachten ist. Diese sogenannten Martinique Principles (s.u.) wurden nun in einem Artikel in der Fachzeitschrift Thyroid, Nr. 4/2019 (Tuttle 2019), veröffentlicht und erörtert.

Für die RIT werden die drei Ziele eindeutig definiert: Ablation (=Entfernung des Restgewebes), adjuvante Therapie (= ergänzende Therapie nach einer Krebstherapie, um ein erneutes Tumorwachstum zu verhindern) und Therapie einer „bekannten“ Krankheit. Gefordert wird u. a., dass der post-operative Krankheitsstatus besser ermittelt und erfasst wird, um die Patient*innen besser den Zielen der RIT zuweisen zu können.

In den weiteren Prinzipien werden die Hauptfragen für die künftige Forschung formuliert: Welche Aktivität soll an radioaktivem Iod bei der adjuvanten als auch bei der therapeutischen RIT verwendet werden? Es sollen ferner kontinuierlich die Kriterien weiterentwickelt werden, wann ein Tumor als „ radioiod-refraktär“ (= nicht mehr Jod-speichernd) gilt. Radioiod-refraktär solle zudem nur eine Risikoeinteilung sein, und keine abschließende Aussage darüber, ob eine RIT noch sinnvoll durchgeführt werden kann oder nicht.

Etwas zu kurz in diesen ersten Prinzipien kommt die Betrachtung der Lebensqualität der Patient*innen als Ganzes, und nicht nur die Auswirkungen einer einzelnen Therapie. Bei low-risk Patient*innen betrifft dies das Problem, dass für die Durchführung einer RIT eine totale chirurgische Entfernung der Schilddrüse notwendig ist, welche mit einem höheren Risiko an Nebenwirkungen durch die Operation einhergeht; insbesondere die Lebensqualität sehr beeinträchtigende permanente Nebenschilddrüsenunterfunktion (= Hypoparathyreoidismus; siehe Antwort auf: 4. Hypopara Bundestreffen 2019 in Halle">Bericht zum 4. Bundestreffen Hypopara). Bei Patient*innen mit einem höheren Risiko für ein Rezidiv bzw. Fortbestehen der Krankheit, stellt sich die Frage, wie sich hier weitere Therapien bzw. bei einem späteren Auftreten bzw. Erkennen eines Rezidivs diese Therapien nicht nur auf das Überleben, sondern auf die Lebensqualität auswirken.

Ein zweites Treffen auf Martinique hat dieses Jahr stattgefunden. Da in Deutschland gerade an einer neuen S3-Leitlinie Schilddrüsenkarzinom gearbeitet wird, dürften diese Prinzipien auf diese einwirken und nicht nur auf eine neu überarbeitete Version der amerikanischen Leitlinie.

Text Harald Rimmele

Überprüft durch Prof. Markus Luster, Marburg, der auch Teilnehmer des Gipfeltreffens war.

Quellen:

  • Controversies, Consensus, and Collaboration in the Use of 131-I-Therapy in Differentiated Thyroid Cancer: A Joint Statement from the American Thyroid Association,the European Association of Nuclear Medicine, the Society of Nuclear Medicine and Molecular Imaging,and the European Thyroid Association.Autor*innen:
    • R. Michael Tuttle, Memorial Sloan-Kettering Cancer Center, New York
    • Sukhjeet Ahuja, Evidence and Quality, Society of Nuclear Medicine and Molecular Imaing (SNMMI), Reston, Virginia.
    • Anca M. Avram, Division of Nuclear Medicine, Department of Radiology, University of Michigan Medical Center, Ann Arbor, Michigan.
    • Victor J. Bernet, Division of Endocrinology, Mayo Clinic College of Medicine, Jacksonville, Florida.
    • Patrick Bourguet, Department of Nuclear Medicine, University Hospital of Martinique, Fort de France, Martinique.
    • Gilbert H. Daniels, Thyroid Unit, Massachusetts General Hospital, Boston, Massachusetts.
    • Gary Dillehay,Thyroid Unit, Department of Nuclear Medicine, Northwestern Memorial Hospital, Chicago, Illinois.
    • Ciprian Draganescu, Department of Nuclear Medicine, University Hospital of Martinique, Fort de France, Martinique.
    • Glenn Flux, Department of Physics, Royal Marsden Hospital and Institute of Cancer Research, Sutton, United Kingdom.
    • Dagmar Führer, Klinik für Endokrinologie des Universitätsklinikums Essen
    • Luca Giovanella, Clinic of Nuclear Medicine and Thyroid Center, Ente Ospedaliero Cantonale, Bellinzona, Switzerland.
      Clinic for Nuclear Medicine, University of Zürich, Zürich, Switzerland.
    • Bennett Greenspan, North Augusta, South Carolina.
    • Markus Luster, Klinik für Nuklearmedizin der Philipps-Universität Marburg
    • Kristoff Muylle, Department of Nuclear Medicine, University Hospital Brussels (UZ Brussel, VUB), Brussels, Belgium + EANM
    • Johannes W.A. Smit, Department of Endocrinology, Radboud University Medical Center, Nijmegen, The Netherlands.
    • Douglas Van Nostrand, Georgetown University School of Medicine, Washington Hospital Center, Washington, DC.
    • Frederik A. Verburg, Klinik für Nuklearmedizin der Philipps-Universität Marburg
      and
    • Laszlo Hegedüs, Department of Endocrinology and Metabolism, Odense University Hospital, Odense, Denmark.

    in:

    Thyroid, Vol. 29, No. 4 , 461-469, doi.org/10.1089/thy.2018.0597

  • Pressemitteilung der EANM vom 5. Juni 2019:
    Internationale Fachgesellschaften einigen sich auf Prinzipien zur Behandlung von differenziertem Schilddrüsenkrebs
    Gemeinsames wissenschaftliches Papier liefert klinische Richtlinien und Forschungswege für die Verbesserung der Patientenversorgung

Martinique Prinzipien (Übersetzung für uns Patient*innen)

  1. Um das Verständnis für eine optimale Therapie des Schilddrüsenkrebs voranzutreiben, braucht es das Bekenntnis durch alle beteiligten Kliniker*innen, Forscher*innen, Patient*innen und Organisationen sich proaktiv und zielgerichtet zu engagieren, was eine interdisziplinäre Zusammenarbeit einschließt.
  2. Das Ziel der Radioiodtherapie soll charakterisiert werden als Ablation, adjuvante Therapie oder Behandlung einer bekannten Krankheit, indem standardisierte Definitionen benutzt werden.
  3. Gefordert wird eine Bewertung des post-operativen Krankheitsstatus, um eine optimale Zuweisung der Patient*innen für eine ablative, adjuvante oder therapeutische Radioiodtherapie zu erreichen.
  4. Der post-operative Krankheitsstatuts Bewertung muss standardisiert und integraler Bestandteil der klinischen Routinenachsorge werden.
  5. Die optimale Zuweisung von Patient*innen für eine adjuvante Radioiodtherapie erfordert die Betrachtung und Bewertung vieler Faktoren über den post-operativen Krankheitsstatus und die Einteilung in Risikogruppen hinaus.
  6. Die optimal verwendete Aktivität für die adjuvante Therapie kann nicht definitiv aus der publizierten Literatur bestimmt werden. Bevor es nicht eindeutige Daten gibt, soll die Wahl der verwendeten Aktivität für die adjuvante Therapie auf einer multidisziplinären Empfehlung beruhen.
  7. Die Kriterien und die Klassifizierung von Patient*innen als radioiod-refraktär sollten benutzt werden, um Patient*innen in Risikogruppen zuzuordnen, unter der Berücksichtigung der Wahrscheinlichkeit, ob der Tumor auf eine Radioiodtherapie anspricht. Dies soll nicht notwendiger Weise ein definitives Kriterium sein, ob eine Radioiodtherapie empfohlen wird oder nicht.
  8. Die Kriterien für „radioiod-refraktär“ müssen kontinuierlich entwickelt werden unter der Berücksichtigung a) von weiteren Studien, die darauf ausgerichtet sind, die bedeutenden Einschränkungen und technischen Sachverhalte, welche die derzeitige Literatur [Evidenz/Datenlage] beeinträchtigen, zu beheben; b) dass die technischen Gegebenheiten für die Bildgebung von radioaktiven Jod optimiert und standardisiert werden; und c) dass Therapien zur Redifferenzierung die Effektivität der Radioiodtherapie verbessern.
  9. Die wichtigsten Lücken im Wissen über und der Evidenz bezüglich des optimalen Gebrauchs der Radioiodtherapie sollten in gut geplanten prospektiven Studien geschlossen werden.

Studien zur Langzeit Beobachtung:

Eine folge Konsesus-Statement ist:

Gulec SA, Ahuja S, Avram AM, Bernet VJ, Bourguet P, Draganescu C, Elisei R, Giovanella L, Grant F, Greenspan B, Hegedüs L, Jonklaas J, Kloos RT, Luster M, Oyen WJG, Smit J, Tuttle RM. A Joint Statement from the American Thyroid Association, the European Association of Nuclear Medicine, the European Thyroid Association, the Society of Nuclear Medicine and Molecular Imaging on Current Diagnostic and Theranostic Approaches in the Management of Thyroid Cancer. Thyroid. 2021 Jul;31(7):1009-1019. doi: 10.1089/thy.2020.0826. Epub 2021 Jun 23. PMID: 33789450.
  • Dieses Thema wurde geändert vor 1 Tag, 14 Stunden von Harald.
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